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Standortsuche.

 

Jetzt, wo sich die Welt allmählich zu teilen scheint, verspüre ich eine zunehmende Orientierungslosigkeit und Unklarheit darüber, wohin ich gehöre. Gleichzeitig verlangen immer mehr eine Standortbestimmung, eine Position. Wohin gehörst du, will man plötzlich wissen. Und warum. 

 

Zu den Guten, den 2fach Durchgeimpften und durch Pass legitimierten FreiBürgern? Und wenn ja, dann zu denen, die ihr Wohl und das der Allgemeinheit, ein Ende der Pandemie oder doch nur den nächsten Urlaub herbeisehnen?

 

Nein!

 

Ah! Dann zu den Bösen, den impertinenten Impfverweigerern. Die auf ihre Mitmenschen pfeifen, Aluhüte tragen, die große Verschwörung der Mächtigen wittern oder sonst irgendwie der Welt entrückt sind?

 

Nein. Sorry, zu denen leider auch nicht. Wo mache ich denn nun mein Kreuzchen? 

 

Vielleicht bei den Besorgten. Ja, ich mache mir Sorgen. Allerdings nicht um ein Virus in all seinen Varianten und Bezeichnungen, sondern um uns Menschen. Um Familien, die sich zerstreiten, Freunde die unüberwindbare Mauern zwischen sich schieben und um Mitmenschen, die nach der Frage, ob man geimpft sei, wissen, was sie von dir zu halten und mit wem sie es zu tun haben. Die öffentliche, sehr scharf geführte Debatte über strikte Verbote für Nichtgeimpfte und allmähliche Lockerungen für Geimpfte tut gerade ihr Übriges. 

 

Auch nach anderthalb Jahren Corona sorgt die Frage, wie man Corona „bekämpft“,  ob es jemals wieder verschwinden und wann endlich wieder alles „normal“ werden wird, für Diskussionsüberschuss, erhöhte Aggressionswerte und unendlich ermüdende Talkrunden. Für abenteuerliche Mutmaßungen, krude Theorien und zwischenmenschliche Flächenbrände. 

 

Es gibt eine exponentiell ansteigende Meinungsvielfalt zum C19-Thema. Das ist gut so und auch wichtig. Was mir Angst macht, ist die Beobachtung, dass viele mit ihrer klaren Meinung auch automatisch das Recht absoluter Wahrheit für sich beanspruchen und dafür gerne mal Freundschaften aufs Spiel setzen oder alles Andersdenkende sowieso von vornherein als quer verorten. 

 

Seit über einem Jahr lese und beobachte ich, ziehe mich zurück aus der Informationsflut, um an Land nachzudenken und mich dann wieder hineinzustürzen. Und was soll ich sagen? Ich finde die Wahrheit nicht – weder in den tiefsten Tiefen, noch an der Oberfläche, nicht in der Gischt. Und auch nicht den einzig richtigen Weg, der mich wirklich überzeugt und alles wieder gut werden lässt. 

 

So bleibt mir nur eines. Mein Gefühl. Das für mich sehr eindeutig ist, keinerlei Anspruch auf allgemeingültige und allumfassende Wahrheit hegt, sehr wohl aber auf meine Beachtung drängt. Mir ist schon klar, etwas rein aus einem Gefühl heraus zu entscheiden und zu argumentieren, ist nicht sehr populär, wird gerne mal mitfühlend belächelt und als putzig naiv abgestempelt. Gerade heute, wo alle nach Inzidenzen, Hochrechnungen und Fallzahlen schielen und entscheiden, kann auf diffuse Gefühle keine Rücksicht genommen werden. 

 

Mir persönlich ist es völlig egal, aus welchem ideellen oder niederen Grund jemand die Entscheidung trifft, sich impfen zu lassen oder eben auch nicht. Was zählt, ist die eigene Überzeugung. Ich bin, je weiter die Zeit voranschreitet und trotz oder gerade wegen des steigenden Drucks, mehr und mehr davon überzeugt, dass es für mich nicht richtig ist. Es fühlt sich für mich nicht richtig an. Das ist nicht verifizier- aber leider auch nicht verhandelbar. Ich habe es versucht, schließlich würde ich schon auch gerne zu den Guten gehören und meinem Verstand, der die guten Gründe für eine Impfung kennt, die Entscheidungshoheit überlassen. Das wäre aber nicht ich. So ist es. Nicht mehr und nicht weniger. 

 

Trotzdem stelle ich die Gründe, Ängste und Bedenken anderer nicht in Frage. Wo gewünscht, trage ich Maske, lasse mich testen, halte Abstand. Nicht aus grundlegender Überzeugung, aber aus ganz natürlichem Respekt. 

 

Trotzdem möchte ich mich mit Andersdenkenden und Andersfühlenden austauschen, möchte verstehen, was uns unterscheidet. Ohne Trennung oder Spaltung befürchten zu müssen oder kurzerhand in einer weit geöffneten Schublade zu verschwinden. 

 

Denn wenn wir es schaffen, uns von unserm RechtHabenMüssen zu lösen, von der Vorstellung, dass Meinung gleich Wahrheit ist, uns wieder zuhören und uns erklären lassen, dann mutiert dieses Virus vielleicht zu einer ganz neuen Variante. Einer, die uns mit gesunder Toleranz, verbindender Empathie und gegenseitiger Akzeptanz infiziert. Die Auswirkungen wären unberechenbar befriedend und genesend. Die Ignoranz- und Aggressions-Antikörper hielten unter Umständen ein Leben lang. 

 

Das könnte ein Ziel für uns alle sein, das wir allerdings nur gemeinsam erreichen. Ganz egal, von welchem Standort wir starten. 

 

Auch das wäre möglich.