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Hundepsychologie

Ich habe vor 10 Jahren lange mit mir gerungen, ob ich mich tatsächlich für das Leben als Hundebesitzerin, -mama, -erzieherin eigne. Schon die Vorstellung, fortan als „Frauchen“ bezeichnet zu werden verursachte unkontrollierbare Zuckungen. Ganz abgesehen von meiner schwach ausgeprägten Durchsetzungskraft gegenüber allzu dominant auftretenden Zweibeinern. Wie sollte ich meine wohl überlegten Argumente einem fellüberzogenen Vierbeiner überzeugend darlegen? Oder reicht ein gut gefüllter Vorrat an Leckerlis evtl. schon aus?

 

Damals dachte ich, das seien die ganz normalen Bedenken und Zweifel verantwortungsbewusster Hundehalter in spe. Heute weiß ich, es war eine sehr konkrete Vorahnung. 

 

Als wir beim Züchter zum „Nur mal Schauen“ anreisten, waren alle wohl überlegten und hitzig diskutierten ABERS schon mit dem ersten Welpenaugenaufschlag weit ins Aus katapultiert. Satz, Sieg, Frauchen. Der erste Platz in der Familienrangliste bebte leicht. Woher lernen diese kleinen koordinierungslosen Fellkugeln eigentlich den unwiderstehlichen K.O.-Blick? Wohl kaum von ihrer Mutter. Sind wir es am Ende, die ihn den domestizierten Wölfchen in die Gene gekrault haben? 

 

Ich hätte gewarnt sein können. Noch war es nicht zu spät. Stattdessen gab ich mich geschlagen. 6 Wochen später begann ein neues Spiel.

 

Natürlich waren wir vorbereitet. Ratgeber gelesen, Ratschläge angenommen, Platz in der Welpenschule längst reserviert. Alles wollten wir richtig machen. Von Anfang an. Klare Zeichen, Grenzen und Befehle setzen, damit uns da bloß nichts aus dem Ruder läuft. Wir die Rudelführer – der Hund folgsam und unkompliziert. Sessel, Couch und Bett – tabu und nicht diskutabel. Essen vom Tisch, Hoppler von der Wiese, Wasser aus dem Klo – absolute No-Gos. Da waren wir uns einig. Und Einigkeit aller an der Erziehung beteiligten Zweibeiner ist eine wichtige Voraussetzung für einen funktionierenden Vierbeiner. So der Plan. 

 

Die Realität heißt Paule, ist ein Labradoodle, also eine Labrador-Pudel-Mischung und bringt genetisch alles mit, was Standhaftigkeit und Wachsamkeit zu Höchstleistung antreibt. 

 

Als Labrador bekanntermaßen allesfressend und jeden liebend. Als Pudel vor allem eines: schlau bis hintertrieben. Zusammengefasst: Er liebt Leckerlis aller Größe und Odeur und sollte der eigene Charme einmal nicht ausreichen, um sie sich ehrlich zu verdienen, weiß er sofort, sie sich selbst zu besorgen. 

 

Mir war aus bisherigen Erziehungserfahrungen sehr wohl bekannt, dass mein Schimpfreflex und die unteren Befehlstöne schwach ausgeprägt sind und ich zuweilen etwas emotions- und  konsequenzflexibel agiere. Dass Paule innerhalb kürzester Zeit nahezu alle Prinzipien auf ihre Standfestigkeit überprüfen wird, darauf war ich jedoch nicht vorbereitet. Im ersten Jahr war er permanenter Grenzgänger. Darf ich, darf ich nicht, darf ich vielleicht doch, wenn ich meine Augenaufschlagsfrequenz ein wenig erhöhe? Ich wollte es mir nicht so recht eingestehen, aber eigentlich hatte ich ganz früh schon das Gefühl, Hilfe zu benötigen. So erschien mir der erste Termin in der Hundeschule wie das rettende Ufer kurz vor dem Untergang.  

 

Doch dort erinnerte mich wenig später alles ein wenig an die Krabbelgruppe meines Sohnes vor 20 Jahren. Alle schönen und negativen Emotionen waren wieder sehr präsent. Schön, weil alle ähnlich ausgelassen, frei  und ohne Vorbehalte miteinander spielten. Beklemmend, weil man die vermeintlichen „Verhaltens- und Entwicklungsdefizite“ des Sprösslings so sehr persönlich nahm.

Dein Kind braucht nachts noch die Windel? Dein Hund ist noch immer nicht stubenrein? 

Gläschen?? Trockenfutter??

Schreikind?? Kläffer??

 

Schublade auf, Frauchen rein. Zum Versagerchen in Rekordzeit. Oh nein. 

 

Irgendwann schien Paule ein Einsehen zu haben und zu kooperieren. In der Hundeschule machte er alles, was von ihm verlangt wurde. Sitz!, Platz!, Bleib!, Schau! und Schäm Dich! zeigte er mit stolz geschwellter Rüdenbrust. Okay, die Leckerchen aus fremden Taschen und Tupperboxen klauen gehörte nicht zum Programm, sorgten aber immer für gute Unterhaltung. Das mit dem Leckerchen-Diebstahl funktionierte zu Hause auch, der Rest scheiterte vermutlich am Zuschauermangel.

 

Alles in allem lief es nach der berühmt-berüchtigten Hundepubertät bald viel besser und ich habe sehr viel gelernt. Vor allem über mich. Denn irgendwann musste ich anerkennen: Paule ist ein wunderbarer Lehrer. Er hat mich dazu gebracht, meine Grenzen kennenzulernen und vor allem: zu akzeptieren, dass die ganz anders verlaufen können, als sie gemeinhin als wichtig und richtig erachtet werden. Kommuniziere ich ihm meine echten Grenzen und meinen echten Willen, versteht und gehorcht er sofort. Spürt er auch nur den Hauch eines Zweifels an meinem Befehl, zögert er. 

 

Paule ist ein sehr freundlicher und wohlwollender Zeitgenosse. Er sucht den Ärger nicht. Und er hat auch nach 10 Jahren nichts von seiner Spitzbübigkeit und seiner Cleverness verloren.

 

Aber: er FUNKTIONIERT nicht. Er geht nicht auf Kommando bei Fuß, macht nur widerwillig Platz, und wenn es an der Tür klingelt, ist er aus dem Häuschen und darf das auch zeigen. Ach ja, und er muss auch nicht umfallen und den toten Hund spielen, wenn ihm jemand Peng zuruft.

 

Aber...

 

... wenn ich ihn am Waldrand endlich ableine, fühlt es sich für mich selbst immer ein bisschen nach Befreiung an. 

 

.... wenn er kurz vor Ende der Gassirunde nochmal rechts abbiegt und eine kleine Extrarunde vorschlägt, willige ich oft nur allzu gerne ein. 

 

... wenn ich allein auf der Couch liege, freue ich mich, wenn er unser Couch-Tabu kurzerhand ignoriert und sich ganz dicht zu mir legt. 

 

Das sind wir. Und so funktioniert das bei uns. Hundeschulen, -trainer und -ratgeber sind wichtig,  geben aber vor allem dem Menschen Orientierung.  Ich halte es mittlerweile für völlig ignorant anzunehmen, wir müssten den Hunden etwas über richtiges Verhalten beibringen. Wie in der Kindererziehung auch, erreicht man das, was man vom anderen WIRKLICH will einzig über Authentizität. Bevor ich einem Hund Schwächen und „schlechtes“ Benehmen abtrainieren will, muss ich so ehrlich zu mir sein und definieren, was das für mich ganz persönlich überhaupt bedeutet. 

 

Ein Hund schaut und reagiert. Das ist relativ simpel, aber auch das größte Geschenk, das er uns machen kann. Wenn man es zu nehmen weiß. 

 

Heute kennen wir unsere Schwächen und genießen unsere gemeinsamen Stärken. Mit viel Liebe, Nachsicht und Toleranz. Dies ist keine pauschale Anleitung zur Hundehaltung. Die gibt es meines Erachtens nicht. Vielleicht hatte ich mit Paule einfach nur Glück, dass er es so gut mit mir meint und mir im besten Falle die Couch erspart. 

 

Deal.